Jahresgespräche sind ein essenzieller Bestandteil des Performance-Managements in Unternehmen. Sie bieten die Gelegenheit, Leistungen zu bewerten, individuelle Entwicklungspläne zu erstellen und die Weichen für das kommende Jahr zu stellen. Doch allzu oft schleichen sich Gefälligkeitsbeurteilungen ein – ein Phänomen, das kurzfristig angenehm erscheinen mag, langfristig aber gravierende negative Folgen für Mitarbeitende und Unternehmen hat.
Was ist eine Gefälligkeitsbeurteilung?
Eine Gefälligkeitsbeurteilung liegt vor, wenn Führungskräfte in Mitarbeitergesprächen bewusst oder unbewusst zu positive Bewertungen vergeben, um Konflikte zu vermeiden oder eine gute Beziehung aufrechtzuerhalten. Statt ehrlicher Rückmeldungen erhalten Mitarbeitende geschönte Einschätzungen ihrer Leistung. Die Gründe dafür können vielfältig sein: Unsicherheit der Führungskraft, mangelnde Konfrontationsbereitschaft oder der Wunsch, das Arbeitsklima nicht zu belasten.
Warum sind Gefälligkeitsbeurteilungen schädlich?
Obwohl Gefälligkeitsbeurteilungen auf den ersten Blick harmlos erscheinen, können sie weitreichende negative Konsequenzen haben:
- Verlust der Glaubwürdigkeit: Wenn Mitarbeitende merken, dass Beurteilungen nicht die tatsächliche Leistung widerspiegeln, verlieren sie das Vertrauen in das Feedback-System.
- Fehlende Entwicklungsmöglichkeiten: Wer keine ehrliche Rückmeldung zu seinen Stärken und Schwächen erhält, kann sich nicht gezielt verbessern.
- Leistungsabfall: Wenn alle Mitarbeitenden unabhängig von ihrer tatsächlichen Leistung gute Bewertungen erhalten, sinkt die Motivation, sich anzustrengen.
- Ungerechtigkeiten im Team: Kolleg:innen, die objektiv weniger leisten, aber die gleiche oder eine bessere Bewertung erhalten, können Unmut bei leistungsstarken Mitarbeitenden hervorrufen.
- Fehlentscheidungen im Talentmanagement: Beförderungen oder Gehaltserhöhungen basieren auf ungenauen Daten, wodurch möglicherweise die falschen Personen belohnt werden.
5 Tipps, um Gefälligkeitsbeurteilungen zu vermeiden
Damit Jahresgespräche ihren eigentlichen Zweck erfüllen, ist es wichtig, Gefälligkeitsbeurteilungen bewusst entgegenzuwirken. Hier sind fünf praxiserprobte Tipps:

1. Klar definierte Bewertungskriterien festlegen
Subjektive Einschätzungen führen oft zu Verzerrungen. Unternehmen sollten daher standardisierte Bewertungsskalen mit klaren, messbaren Kriterien einführen. Eine Skala mit Beispielen für verschiedene Leistungsniveaus hilft, Bewertungen objektiver und nachvollziehbarer zu gestalten.
In der Praxis: SAP hat strukturierte Feedbackprozesse implementiert, die auf klar definierten Bewertungskriterien basieren. Durch halbjährliche Mitarbeitergespräche und feste Feedbackzyklen wird sichergestellt, dass Bewertungen objektiv und nachvollziehbar sind. Diese strukturierte Vorgehensweise hat dazu beigetragen, den Umsatz pro Mitarbeiter in fünf Jahren um 25% zu steigern. (Finafix)
2. Regelmäßiges Feedback während des Jahres geben
Wenn Mitarbeitende das ganze Jahr über konstruktive Rückmeldungen erhalten, gibt es im Jahresgespräch keine unangenehmen Überraschungen. Durch kontinuierliches Feedback werden schwierige Themen frühzeitig angesprochen und können gezielt verbessert werden.
In der Praxis: Netflix setzt auf kontinuierliches Feedback in Echtzeit, anstelle traditioneller jährlicher Leistungsbeurteilungen. Mitarbeiter erhalten regelmäßig informelles Feedback, was eine agile Unternehmenskultur fördert und Probleme frühzeitig identifiziert. 93% der Netflix-Mitarbeiter fühlen sich durch diese Kultur motivierter. (Finafix, FasterCapital)
3. Führungskräfte im Umgang mit Feedback schulen
Oft entstehen Gefälligkeitsbeurteilungen, weil Führungskräfte Konflikte scheuen oder sich unwohl fühlen, kritisches Feedback zu geben. Durch gezielte Schulungen zu Gesprächsführung, Feedback-Techniken und psychologischer Sicherheit kann ihnen die notwendige Sicherheit vermittelt werden.
In der Praxis: Google hat ein System namens „g2g“ („Googler-to-Googler“) eingeführt, das es Mitarbeitern ermöglicht, Feedback zu geben und zu empfangen. Dieses Programm fördert eine Kultur des kontinuierlichen Lernens und der offenen Kommunikation. Durch regelmäßige Schulungen und Workshops werden Führungskräfte darin unterstützt, effektives Feedback zu geben und anzunehmen, was zu einer höheren Mitarbeiterzufriedenheit und Produktivität führt. (new-leaders.academy)

4. 360-Grad-Feedback einbinden
Mitarbeitende interagieren mit verschiedenen Kolleg:innen, Kund:innen und anderen Abteilungen. Ein erweitertes Feedbacksystem, das mehrere Perspektiven einbezieht, kann helfen, eine objektivere Beurteilung zu erhalten und persönliche Sympathien oder Antipathien der Führungskraft auszugleichen.
In der Praxis: Deloitte nutzt ein 360-Grad-Feedbacksystem, bei dem Mitarbeiter anonymes Feedback von Kollegen, Vorgesetzten und direkt unterstellten Mitarbeitern erhalten. Diese umfassende Perspektive ermöglicht eine objektivere Beurteilung der Leistung und fördert die persönliche Entwicklung. (FasterCapital)
5. Eine Kultur der Offenheit und des Vertrauens fördern
Mitarbeitende und Führungskräfte müssen wissen, dass konstruktive Kritik keine Strafe, sondern eine Chance zur Weiterentwicklung ist. Unternehmen sollten eine Kultur fördern, in der ehrliches Feedback geschätzt wird und Fehler als Lernmöglichkeiten betrachtet werden.
In der Praxis: Pixar hat mit seinen „Notes Days“ eine Kultur geschaffen, in der Mitarbeiter offen Gedanken und Feedback zu verschiedenen Themen austauschen können. An diesen Tagen ruht die reguläre Arbeit, und alle Mitarbeiter sind eingeladen, in Gruppen ihre Ideen und Kritikpunkte zu teilen. Diese Praxis fördert eine offene Kommunikationskultur, in der alle Stimmen gehört werden und Innovationen entstehen können. (start-pulse.com)
Fazit
Gefälligkeitsbeurteilungen sind keine harmlose Geste, sondern schaden sowohl der individuellen Entwicklung als auch der Leistungsfähigkeit eines Unternehmens. Führungskräfte sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein und durch klare Bewertungskriterien, regelmäßiges Feedback, Schulungen und eine offene Unternehmenskultur sicherstellen, dass Beurteilungen ehrlich, fair und zielführend sind. Nur so kann das Jahresgespräch zu einem wertvollen Instrument für persönliches Wachstum und unternehmerischen Erfolg werden.